Von Fabian Tietke
Teil 1: 1966-1969
Filme machen. Endlich Filme machen. Aber wie? - Das dürften sich viele der Studierenden gefragt haben, die im September 1966 an der neu eröffneten Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb) das Studium aufnahmen. Während im westdeutschen Fernsehen die RAUMPATROUILLE (DE 1966) ins Weltall aufbrach, stürzten sich viele der Studierenden in die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die sie umgab: die noch immer ungewohnte Insellage West-Berlins in Folge des Mauerbaus 1961, die sich verstärkenden Konflikte zwischen den verbliebenen Vertretern der Adenauerära und jenen einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung.
Auch filmästhetisch rief diese gespannte Lage nach neuen Formen. Die Formen, die die Unterzeichner des Oberhausener Manifests vom 28. Februar 1962 bis dahin in ihren Kurzfilmen entwickelt hatten, wirkten nun wenige Jahre später selbst altväterlich belehrend. Sie schienen kaum mehr geeignet, um der Wirklichkeit der 1960er Jahre gerecht zu werden.
Unter den Fittichen des Regierenden Bürgermeisters und späteren Bundeskanzlers Willy Brandt hatte sich die Kultur in West-Berlin zum symbolischen Ersatz für die geschwächte Wirtschaft entwickelt. Die Studierenden, die nicht aus Berlin kamen, erlebten die Stadt wie im Rausch: Nächte ohne Sperrstunde, Erbsensuppe mit unbegrenzt Brötchen bei Aschinger am Zoo, Jazzclubs und Plattenläden mit allem, was das Herz begehrte. Zu den ersten Filmen, die ab Winter 1966 an der dffb entstanden, gehörte WERNER von Frank Grützbach. Der kurze Dokumentarfilm schildert das Ankommen eines jungen Mannes, der aus der Enge Wilhelmshavens nach West-Berlin geflohen ist, und zeigt, wie er die Stadt für sich entdeckt.1
Es liegt nahe, den Film auch als Spiegel des Erlebens vieler Studierender zu sehen.
Neun Monate, von September 1966 bis einschließlich Mai 1967 hatte die dffb, um sich zu finden, um die erwartbare Improvisation in einen ersten Lehrbetrieb zu überführen, bevor die wachsende Politisierung der Studierenden nach der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 durch den Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras den Lehrbetrieb an der dffb lahmlegte.
September 1966 bis Mai 1967 - Fingerübungen in Wirklichkeit
Die ersten Filme waren gleichsam Fingerübungen. Rückblickend fällt ihre ästhetische Bandbreite auf. Bei vielen Filmen, die heute an Filmhochschulen entstehen, ist die zugrundeliegende Aufgabenstellung deutlich erkennbar. Die Filme der ersten dffb-Jahrgänge hingegen lassen darauf rückschließen, dass es nur wenige Vorgaben gab. So entstanden zwar auch klassische Erstlinge wie die beiden parabelhaften Kurzspielfilme ANMASS – MASS von Hans-Rüdiger Minow und DER EINE – DER ANDERE von Wolfgang Petersen, und die Regieklasse des Künstlerischen Direktors Erwin Leiser übte sich an Kurz-Dokumentarfilmen über den Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. März 1967.
Die meisten Filme zeigen jedoch bereits grob die ästhetischen Vorstellungen der Studierenden. So drehte Harun Farocki nach DER WAHLHELFER zur Abgeordnetenhauswahl seinen zweiten Film JEDER EIN BERLINER KINDL als eine Reflexion über einige Werbeplakate der Berliner-Kindl-Brauerei, halb phänomenologisch, halb ideologiekritisch. Farockis Wahl des Sujets war typisch für eine Reihe von Filmen der ersten Jahre, in denen Werbeplakate als Inbegriff der Konsumgesellschaft in den Wirtschaftswunderjahren auftauchen. An einer der interessantesten Stellen des Films entwirft Farocki, ausgehend von einer der Figuren auf den Plakaten, die soziale Topografie eines Berliner Arbeiters.
Helke Sander drehte SUBJEKTITÜDE: Eine Alltagsszene an einer Bushaltestelle, wird im inneren stream of consciousness einer jungen Frau, die von zwei jungen Männern umgeben ist, zu einer Analyse gegenderten Verhaltens. Beiden Filmen ist ein essayistischer Zugang zu Alltagsphänomenen gemein.
Andere schienen überzeugt zu sein, dass sich der Gesellschaft, in der sie lebten, am ehesten von ihren Rändern her beikommen ließe: Johannes Beringer, Holger Meins und Günter Peter Straschek wandten sich Außenseitern zu, denen ihre gesellschaftliche Umgebung feindlich gegenübersteht.
Johannes Beringer porträtierte in DAS ZIMMER einen jungen libanesischen Mann, der die meiste Zeit in der Einsamkeit seines Zimmers verbringt. Holger Meins drehte mit OSKAR LANGENFELD (12x) (1966) einen ruhigen und beobachtenden Dokumentarfilm, den er in der Montage noch verdichtete. Günter Peter Straschek zeichnete in HURRA FÜR FRAU E. das quicklebendige Porträt einer alleinerziehenden Mutter, die – kaum dass sie ihren Mann endlich los ist – in Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt verstrickt wird, das ihr das Sorgerecht für ihre unehelich geborenen Kinder beschränkt.
Etwas abseits dieser Ansätze etablierte Irena Vrkljan ihren geschichtsbewusst-gegenwärtigen und poetischen Zugang zur Filmsprache und drehte nach ihrem Erstlingsfilm FAROQHI [Farocki] DREHT den Kurzfilm WIDMUNG FÜR EIN HAUS, der einem zerstörten Jugendstilgebäude in der Potsdamer Straße 24 ein Denkmal setzt.2
Zwischenprüfung: erster Akt des Dramas
Bis Mai 1967 hatten die Studierenden unter den schwierigen Bedingungen der Anfangszeit einen Film zu realisieren, dessen Begutachtung durch die Akademieleitung am Ende des ersten Studienjahres über den Verbleib an der dffb entscheiden sollte – ein Prüfungsverfahren, das weder bei den Studierenden noch bei den Dozenten auf Begeisterung stieß, zumal die Kriterien unklar waren. Sieben Studenten wurden ihrem Verständnis nach aus politischen Gründen „herausgeprüft“, darunter Wolf Gremm, Wolfgang Sippel, Günther Peter Straschek und Harun Farocki. Während Wolfgang Sippel tatsächlich sein Studium abbrach, waren die übrigen nicht willens, diese Entscheidung zu akzeptieren. Fünf der sieben waren überdies ehemalige oder amtierende Studentenvertreter und zuvor für die Änderung der Studienordnung eingetreten.3 Nach Protesten wurden diejenigen, die dies wollten, wieder aufgenommen. Die Studierenden hatten einen ersten Sieg errungen – in einer ziemlich unnötigen Auseinandersetzung.
Diese Episode prägte den Mai 1967. Zeitgleich hatten die Opposition gegen den Vietnamkrieg und die Solidaritätsbewegung mit dem Kampf für die Dekolonisation auch in Westdeutschland Fahrt aufgenommen. Am 26. Mai gab es einen ersten Beschluss der offiziellen Studentenvertretung der Freien Universität zum Krieg in Vietnam, der das Vorgehen der US-Regierung verurteilte.4 Die Vorbereitungen der Studentenbewegung West-Berlins für Protestaktionen und Demonstrationen gegen die Staatsbesuche des US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey im April und des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi im Mai liefen auf Hochtouren. Auch zahlreiche dffb-Studierende waren in die Proteste involviert.5
Polizeistaatsbesuch
Am 28. Mai 1967 traf der Schah zunächst in Bonn, am 2. Juni 1967 schließlich in West-Berlin ein. Am Abend des gleichen Tages wurde der Student Benno Ohnesorg im Verlauf einer Demonstration in Charlottenburg erschossen.
Zwei Filme widmen sich den Ereignissen rund um den Schah-Besuch. Roman Brodmann drehte für den Süddeutschen Rundfunk (SDR) die Dokumentation DER POLIZEISTAATSBESUCH – BEOBACHTUNGEN UNTER DEUTSCHEN GASTGEBERN. Ein weiterer entstammt dem Umfeld der dffb: Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow realisierten für den Allgemeinen Studenten-Ausschuss (AStA) der Freien Universität Berlin den Film DER 2. JUNI 1967.6
Dem Tod Ohnesorgs folgte eine bis dahin ungekannte Mobilisierungswelle.7Die Studierenden der dffb waren an dieser durch Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow direkt beteiligt. Daneben existierten unzählige weitere Verbindungen zwischen dffb und der Berliner Studentenbewegung.8 Die Filme sollten nun politischer werden. Aber was ist das - ein politischer Film?
1967–1969 Selbstorganisation der Lehre: Die Gruppe 3
Ab Juni 1967 füllte das politische Engagement eines Teils der Studierenden zunehmend den Freiraum, den ihnen der Unterricht infolge des noch nicht vollständig ausgearbeiteten Lehrkonzepts ließ. Dass die dffb nach den Versuchen am Deutschen Institut für Film und Fernsehen (DIFF) in München und der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG Ulm) die erste Institution zur Professionalisierung der Ausbildung in einer Filmakademie in der Bundesrepublik war, bedeutete, dass auch die Dozenten zum Ausprobieren gezwungen waren. Der zweite Jahrgang der dffb, der im Herbst 1967 sein Studium aufnahm, geriet mitten hinein in eine filmpolitische Kampfzone.
Harun Farocki erinnert sich rückblickend: „In diesem Jahr [den zwölf Monaten ab Juni 1967] ist kaum ein Film fertiggeworden. Plötzlich hatten viele einen viel höheren politischen Anspruch an sich selbst und wußten nicht, wie sie den umsetzen sollten.“9Johannes Beringers zweiter Kurzfilm SITUATIONEN steht für die so mutige wie ratlose Suche nach neuen Ausdrucksformen in der Zeit nach dem 2. Juni 1967. Statt großer Thesen setzt Beringer in seinem Film auf unvermittelt nebeneinandergesetzte Situationen. Der politische Kontext wird in einer Diskussion zwischen Studierenden der dffb am Ende des Films offengelegt. Die Suche nach filmischen Ausdrucksformen für die aktuellen Auseinandersetzungen stellte die Studierenden vor Fragen, die sich der deutschen Filmproduktion der Nachkriegszeit noch nicht gestellt hatten.
Die Gründung der Gruppe 3 im Herbst 1967 war der Versuch, durch sie einen selbstbestimmten Produktionszusammenhang zu schaffen. Die zentrale Idee war es, einen leichteren und flexibleren Umgang mit dem Produktionsetat zu ermöglichen. Ab Oktober 1967 konnten die neun Studierenden der Gruppe (Helke Sander, Harun Farocki, Ulrich Knaudt, Günther Peter Straschek, Hartmut Bitomsky, Jean-François Le Moign, Holger Meins, Thomas Hartwig und Christian Ziewer) unter Leitung des Dozenten Otto Gmelin über einen gemeinsamen Produktionsetat von zunächst 17.000 DM verfügen. Noch wichtiger war, dass der Gruppe filmtechnische Ausrüstung zum Gebrauch auf Abruf zur Verfügung stand.
Die Gründung der Gruppe 3 folgte zudem der Einsicht, dass Filme – zumal an Filmhochschulen – meist ohnehin in Teamarbeit entstehen und nur selten einer einzelgängerischen Autorschaft entspringen. Auch ermöglichte es der Gruppenprozess, die eigenen Schwerpunkte, Interessen und Stärken herauszufinden und davon ausgehend eine sinnvolle Arbeitsteilung zu suchen. Christian Ziewer etwa, der sich 1972 mit seinem Spielfilmdebüt LIEBE MUTTER, MIR GEHT ES GUT (1972) als erster ehemaliger Student der dffb einen Namen machte, war an seinem ersten Kurzfilm im Rahmen seines Studiums an der Akademie gescheitert. Ziewer reflektiert die Gründe für sein Scheitern ausführlich in einem Papier mit dem Titel Gedanken über meine Vergangenheit, soweit sie die Akademie betrifft, und über meine Zukunft, soweit sie in meinen Händen liegt ((Link zu diesem Papier)). Im Rahmen der Gruppe zunächst Projekte der anderen zu unterstützen und sich über die eigenen Vorstellungen vom Filmemachen klar zu werden, dürfte hilfreich gewesen sein.
Die Produktionsankündigung der Gruppe 3 nennt als erste geplante Projekte „Springerfilm ca. 30 Min“ (Helke Sander), „krit. Lehrfilm über die Demonstration und ihre Vorbereitung“ (Ulrich Knaudt), „3 Spots und einen Film à 10 Min“ (Harun Farocki), „11 Thesen zu Feuerbach (Marx)“ (Hartmut Bitomsky) und einen eigenen Film von Günter Peter Straschek, bei dem es sich um den legendären EIN WESTERN FÜR DEN SDS gehandelt haben dürfte.10
Die Bedeutung der Arbeit der Gruppe 3 liegt in drei Aspekten begründet: Erstens macht die Produktionsakte der Gruppe 3 deutlich, dass das Springer-Projekt von Helke Sander, das schließlich in BRECHT DIE MACHT DER MANIPULATEURE (1968) führen sollte, der zu jener Zeit mit Abstand avancierteste Versuch eines politischen Dokumentarfilms an der dffb war; zweitens wurden Arbeitstechniken erprobt, die die Gruppe 3 zum Modell für selbstorganisiertes Arbeiten machen sollte, und drittens lesen sich einige Sätze aus dem Arbeitsprogramm der Gruppe 3 ((Scan Arbeitsprogramm)) wie Leitlinien des politischen Dokumentarfilms für die nächsten zehn Jahre:
„Am Thema ‚Springer-Pressekonzentration‘ versucht die Gruppe, Möglichkeiten des Dokumentarfilms zu erproben. Es geht ihr dabei nicht um eine kontinuierliche Berichterstattung der Ereignisse, sondern um folgende selbstgestellte Aufgaben, die filmisch zu untersuchen sind:
a. Wie konzipiert man Lehrfilme?
b. Wie lassen sich politische Slogans filmen?
c. Wie lassen sich Szenen konstruieren, die eine dokumentarische Aussage haben. d.h. wieweit lässt sich Fiktion in Dokumentation umwandeln?
d. Auf welche Weise spricht man bestimmte Gruppen an?“11
Zu den Filmen, die aus der Gruppe 3 heraus entstanden, gehören: DIE WORTE DES VORSITZENDEN (1967, Regie: Harun Farocki), bei dem es sich um einen der drei Spots handelt, die Farocki angemeldet hatte, IHRE ZEITUNGEN (1967, Regie: Harun Farocki), UNSERE STEINE (1968, Regie: Ulrich Knaudt) und schließlich der bereits erwähnte mit etwa 40 Minuten Spieldauer längste Film des Springer-Komplexes: BRECHT DIE MACHT DER MANIPULATEURE (1968, Regie: Helke Sander).Neben ihrem Stellenwert als gelungene Beispiele politischer Filmästhetik, war die Produktion als Projekt auch für die Verbindung zwischen dffb-Studierenden, der Studentenbewegung und deren wichtigsten Organisationen in Berlin, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und dem Republikanischen Club, von großer Bedeutung.12 Die Direktion war durchaus bemüht, die Arbeit der Gruppe zu unterstützen.
Anfang 1968 tauchte ein Film mit dem Titel HERSTELLUNG EINES MOLOTOW-COCKTAILS auf, der sich an französischen ciné-tracts orientiert.13 Der anonym produzierte Film verbreitete sich schnell, lief auf Teach-ins, in der Kommune 1 und erlebte seine wohl wichtigste Aufführung am 1. Februar 1968 auf einer Veranstaltung in der Technischen Universität Berlin zur Vorbereitung des sogenannten Springer-Tribunals.14 Der Film, von dem heute gesichert ist, dass er vom dffb-Studenten und Mitglied der Gruppe 3 Holger Meins hergestellt wurde, beendet die Gebrauchsanweisung zum Bau eines Molotow-Cocktails mit einer langen Einstellung des Springer-Hochhauses.15 Für die Organisatoren der Springer-Kampagne war die Aufführung ein Debakel.16In derselben Nacht wurden Schaufensterscheiben in sechs Springer-Filialen eingeworfen. Meins war erschrocken über die Wirkung seines Films, „lässt das Negativ aus dem Kopierwerk holen und verwischte alle Spuren, die auf eine Verbindung zur dffb hinweisen“.17
Vietnam in West-Berlin
Die zweite große Kampagne der Studentenbewegung, die zeitgleich stattfand, richtete sich gegen den Krieg der USA in Vietnam. Anfang Februar 1968 sollte ein großer öffentlichkeitswirksamer Kongress stattfinden. Auch hier waren dffb-Studierende mit dabei: Holger Meins beteiligte sich an der Vorbereitung, Thomas Giefer dokumentierte den Kongress und die heftigen Reaktionen, die er in der Berliner Bevölkerung hervorrief. Giefers Film TERROR AUCH IM WESTEN (1968) collagiert verschiedenste Materialien (Bilder des Kriegs in Vietnam, Aufnahmen der Demonstration gegen den Kongress, Aufnahmen vom Kongress selbst, den Schlager „Eine Hand voll Reis“ von Freddy Quinn (der nach der Strophe „Wir kämpften in unsʼrer Kolonne // für Freiheit und Demokratie // Und hinter uns rollte die Tonne // mit dem Whisky der Kompagnie“ eine Handvoll Reis besingt, die es in Lao Tan gegeben haben soll) zu einem Porträt der Auseinandersetzungen über den Vietnamkrieg in der „Frontstadt Berlin“.
Giefers Film war nicht der einzige, der sich mit dem Vietnamkrieg auseinandersetzte: VAU (1967, Regie: Jean-François Le Moign/Skip Norman) verwob Versatzstücke der sexualpolitischen Debatte der 1960er Jahre mit einer Anprangerung der Folterungen durch die US-Amerikaner in Vietnam, integrierte die Anti-Springer-Kampagne, rekurrierte auf die damals leider nicht unüblichen Vergleiche des Vorgehens der US-Truppen mit jenem der SS und beschwor am Ende den Internationalismus durch Aufnahmen schwarzer Hände beim Trommeln.
Visuell entschlossener wirkt da Carlos Bustamantes DE OPPRESSO LIBER: Mit einem für einen Studenten überraschenden Gespür für filmische Montage montiert Bustamante in der Art des kubanischen Dokumentarfilmregisseurs Santiago Alvarez Medienbilder aus dem Vietnamkrieg mit Aufnahmen der US-Truppen in West-Berlin und thematisiert so die US-Truppen als Teil der US-Militärmaschinerie. Vietnam war überall.
Auch Carlos Bustamantes nächster Film, GREEN BERET (1969), widmete sich der Kritik am amerikanischen Imperialismus. Neben Bustamante sind für den Internationalismus an der dffb der ersten Jahre vor allem drei Filme von Skip Norman wichtig: CULTURAL NATIONALISM (1968), BLUES PEOPLE (1969) und der Abschlussfilm STRANGE FRUIT (1969). Mit diesen Filmen brachte Norman die Bildsprache der Black-Panther-Bewegung nach Westdeutschland.18
1970 drehte Gaston Bart-Williams mit seinem Abschlussfilm WHICH WAY AFRICA? EVOLUTION OR REVOLUTION eine Analyse der damaligen Situation in Afrika: „dedicated to Freedom Fighters everywhere and to the struggling Masses“. Bart-Williamsʼ Film ähnelt in der Struktur Fernando E. Solanasʼ LA HORA DE LOS HORNOS (DIE STUNDE DER HOCHÖFEN, 1968). Er beginnt mit einer kurzen Geschichte Afrikas in der Zeit vor der Kolonialisierung und schließt dann eine Kritik des Kolonialismus als Gewaltherrschaft an. Den Hauptteil bildet eine Apologie der Gewalt im Befreiungskampf. Der Film listet Anforderungen an einen revolutionären Kämpfer auf: Er soll Waffen bedienen können, Fahrrad fahren, lange ohne Rast gehen, klettern, Hindernisse überwinden, kleine Reparaturen machen. Und er benennt Möglichkeiten der alltäglichen Sabotage von Kolonialisten und endet in einem Ausblick auf die zukünftige Erziehung durch Unterricht in afrikanischer Geschichte, Panafrikanismus, Sozialismus in Afrika und der Welt. Die letzte Einstellung zeigt ein Feld, das mit einem Traktor gepflügt wird.
Anders als jene Filme, die sich direkt an Kampagnen der Studentenbewegung in Berlin orientierten, brachten vor allem die Filme von Skip Norman und Gaston Bart-Williams die Studierenden in Berlin in Kontakt mit Konflikten und Auseinandersetzungen an anderen Orten der Welt.19
Vor dem Knall
Die Konflikte an der dffb dauerten das ganze Frühjahr hinweg an. Im Januar und Februar beschäftigte die Auseinandersetzung um Günter Peter Strascheks EIN WESTERN FÜR DEN SDS die Akademie, nachdem es Ärger in den Klöckner-Werken gegeben hatte, weil Straschek für seinen Film Flugblätter für die Anerkennung der DDR hatte verteilen lassen.20 Der Film zeigt „drei typische Vertreterinnen des Typs berufstätige Frau. Die Figuren verkörpern fortschreitende Stationen auf dem Weg zur Emanzipation.“21 Als erster dffb-Film griff er das Basisgruppenkonzept der SDS auf.
Straschek bekam zunächst Hausverbot an der dffb, Ende Februar wurde sein Ausbildungsvertrag gekündigt.22 Damit war er der erste relegierte Student. Über das Schicksal des Films schreibt er: „Noch in der Woche meines Ausschlusses ist aus dem Zimmer dieser Geschäftsleitung meine fertiggeschnittene Arbeitskopie ‚spurlos verlustiggegangen‘. Über das in einer Kopieranstalt ungeschnitten aufliegende Negativ hat die Akademieleitung eine Sperre verfügt …“ 23
Im April folgte ein Schock für die ganze West-Berliner Linke: am 11. April 1968 schießt der Hilfsarbeiter Josef Bachmann Rudi Dutschke nieder, der das Attentat nur knapp überlebt. Das Attentat gibt der Springer-Kampagne neuen Auftrieb. Harun Farocki dreht den stummen Kurzfilm DREI SCHÜSSE AUF RUDI.24
Der ereignisreiche Mai 1968 endete mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze durch den Bundestag – und an der dffb mit einer Besetzung der Räume der Akademie vom 27.-29. Mai.25 Die Studierenden hissten eine rote Fahne auf dem Deutschland-Haus am Theodor-Heuss-Platz und benannten die dffb in „Dsiga-Wertow-Akademie“ um – eine Namensgebung, die sich der damalige Filmgeschichtsdozent und Verfechter des sowjetischen Montagekinos, Ulrich Gregor, durchaus als Erfolg seiner Lehrveranstaltungen anrechnen darf. Mit der Wahl des sowjetischen Agitationsfilmer zum Namenspatron bewiesen die Studierenden Zeitgeist: Wertow galt damals als politisch gradliniger Gegenpol zum „Romantiker“ Sergej Eisenstein.26 Die Studierenden hielten die Akademie besetzt, bis der Verwaltungsdirektor Heinz Rathsack das Gebäude schließlich von der Polizei räumen ließ.
In einem Flugblatt anlässlich der Besetzung schrieb Thomas Giefer über die Bedingungen an der dffb: „Die Herstellung von Dokumentarfilmen ist nicht vorgesehen, geschweige denn eines aktuellen Dokumentarfilms im Sinne Wertows. Der Begriff Agitation, bei Wertow Anlaß und Fundament der Arbeit, wird von der scheinheiligen Notstandsgesellschaft als zutiefst unanständig empfunden ... Ein ehrlicher Film muß zwangsläufig an der politischen Aktion teilnehmen […].“27
Der Konflikt blieb den Sommer über in Berlin, während die Studenten in Urlaub fuhren. Die dffb-Studenten Johannes Beringer, Gerd Conradt, Holger Meins, Philipp Sauber und Michael Geissler nahmen Anfang Juni das Festival in Pesaro zum Anlass, um nach Italien zu fahren; in München sammelten sie Günter Peter Straschek ein.28
Ende Juni/Anfang Juli 1968 fanden die 18. Internationalen Filmfestspiele Berlin statt. Wie zuvor in Cannes und später im Jahr in Venedig, wurde auch die Berlinale zu einem Forum der gesellschaftlichen Proteste mit den Mitteln des Films.29 Die Studierenden wollten die öffentliche Aufführung ihrer Filme auf der Berlinale durchsetzen. Die Direktion der dffb wollte die Auswahl nicht aus der Hand geben, sondern die Kontrolle über die Außendarstellung der Akademie in der Hand behalten. Die Studierenden verteilten ein Flugblatt, das den Rücktritt von Leiser verkündete.30
Aber dann ist wieder Sommer: Philip Werner Sauber ist mit Ulrike Edschmid in Italien, andere sind woanders.31 Auf Heinz Rathsack wartete ein arbeitsreicher Sommer, in dem er die Wogen glätten musste und das Kuratorium besänftigte.
Der Knall
Im Herbst ging der Konflikt in die nächste Runde. Im September erschien in der Zeitschrift Filmkritik ein Artikel von Studenten der dffb (vermutlich Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Thomas Giefer) mit dem Titel Bewußtlosigkeit als Ausgang und Ziel, in dem die Geburtsfehler, Missstände und Konfliktlinien präzise benannt werden.
Beklagt wird der Einfluss von Politikern auf die grundlegenden Entscheidungen an der dffb: „Um sich wenigstens die DFFB als Gegenstand ihres Prestiges zu sichern, mußten die Politiker über einen unmittelbaren Einfluß auf die Akademie verfügen; sie legten ihr den privatrechtlichen Status einer G.m.b.H. zugrunde. In deren Aufsichtsrat, Kuratorium genannt, nimmt ein Interessenkonsortium von Senats- und Ministerialbeamten die filmakademischen Geschäfte der Bundesrepublik und Westberlins wahr. Da das Kuratorium das höchste Beschlußorgan der DFFB ist, zugleich aber deren Staatsaufsicht präsentiert, besitzt die Akademie nicht die Autonomie anderer Hochschulen; die der Freiheit von Forschung und Lehre entsprechende Freiheit von Ausbildung und Produktion ist nicht garantiert: wes Brot ich eß, des Lied ich sing.“32
Im November spitzte sich die Lage weiter zu. Ausgangspunkt war ein Konflikt zwischen Gerd Conradt und dem Produktionsleiter der Akademie, Felix Hock, über den Umgang mit 8-mm-Material, das Conradt zur Verfügung gestellt worden war.
Als Conradt ein beleidigendes Flugblatt gegen Hock verfasste, kam es zur Eskalation im Konflikt zwischen Direktion und Studentenschaft. Rathsack sah sich schließlich gezwungen, die die Ausbildungsverträge mit 18 Studierenden zu kündigen.33
Im Jahr darauf, kompilierte die Gruppe Wochenschau (Michael Busse, Gardi Deppe, Rolf Deppe, Cristina Perincioli, Hans-Helmuth Prinzler, Horst Schwaab, Gisela Tuchtenhagen) unter Leitung von Klaus Wildenhahn das Material, das während der Auseinandersetzungen entstand. Die WOCHENSCHAU 1 (REQUIEM FÜR EINE FIRMA) (1969) ist eine filmische Rekonstruktion der Vorgänge. Zugleich gewinnt man den Eindruck, dass der Film auch eine Form der Bewältigung war.
Die direkteste Auswirkung des Konfliktes vom Herbst 1968 war neben der Relegation das Ausscheiden des Künstlerischen Direktors Erwin Leiser zum 1. April 1969. Damit war ein wichtiger Schritt zum Erhalt der dffb getan. Leiser war spätestens im Dezember unhaltbar geworden, als eine große Zahl von Dozenten ihm mit einem Brief ihr Misstrauen ausgesprochen hatten. In der turbulenten Zeit zwischen Relegation und dem Ende des Gerichtsverfahrens, das die Relegierten angestrengt hatten und das mit einer vollständigen Niederlage der dffb endete, leitete Heinz Rathsack die dffb alleine, ab 1969 unterstützt vom Studienleiter Hans Helmut Prinzler.
Nach dem Knall
In filmästhetischer Hinsicht endete mit der Relegation der Studierenden die Zeit des Experiments. Das prägende Medium der folgenden Jahre wurde der lange Dokumentarfilm, wie er vor allem vom damaligen dffb-Dozenten Klaus Wildenhahn gelehrt wurde. Just jene WOCHENSCHAU 1 lässt sich als Wendepunkt verstehen. Im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung im Dezember 1978, zehn Jahre nach der Relegation, blickte Harun Farocki im Rahmen einer Diskussion an der dffb auf die Folgen zurück:
„Mir kommt es so vor, als ob die ganzen Disziplinierungsmaßnahmen irgendwie als fünfte Kolonne in alle Leute eingesickert sind und nicht durch irgendwelche definitiven Verfügungen, Bestimmungen oder Gesetzmäßigkeiten. Nicht dadurch, daß es irgendein Disziplinarrecht gibt, ist das und jenes an der Uni unmöglich geworden […].“34
Thomas Giefer fügte hinzu:
„Der Film [DIE WOCHENSCHAU 1] ist in dieser Art eigentlich völlig untypisch für unsere damalige Arbeitsweise. Wir haben Filme gemacht, die versucht haben auf dem kleinsten gemeinsamen agitatorischen Nenner bestimmte Widersprüche darzustellen. Wir hatten überhaupt nicht die Geduld solche langen Dokumentationen herzustellen. Ich glaube, das ist der Einfluß von Wildenhahn und von den Leuten, die damals noch an der Akademie geblieben sind, und die Tradition hat sich auch viel stärker in der Akademie fortgesetzt, während unsere filmische Tradition sich außerhalb der Akademie fortgesetzt hat oder ist dort abgestorben.“35
Man kann die künstlerische Entwicklung an der Akademie in der Zeit nach der Relegation, die Hinwendung zu langen beobachtenden Dokumentarfilmen, unterschiedlich beurteilen: Während Giefer die Orientierung an den Konzepten zum Dokumentarfilm von Klaus Wildenhahn, der neben seiner Tätigkeit als Dozent auch in der Abteilung Fernsehspiel des NDR tätig war, halb staunend, halb skeptisch beurteilte, lässt diese sich auch als Professionalisierung verstehen, die die Verwertbarkeit der dffb-Produktionen erhöhte und in ihrer Anti-Militanz dazu beitrug, dass die dffb in den nächsten Jahren in ruhigeren Wassern fuhr.
Außerhalb der dffb versuchten viele der relegierten Studenten, die akademische Ausbildung durch selbst geschaffene Strukturen zu ersetzen: Thomas Giefer gründete mit einigen Mitstreitern das Rote Studenten- und Arbeiterkino (Rosta) und eine Gruppe um Gerd Conradt schloss sich zum Kollektiv Westberliner Filmarbeiter zusammen.36 Andere legten ihr Geld in filmtechnischer Ausrüstung an; das galt für die Gruppe Basis-Film mit Thomas Hartwig, Jean-François Le Moign, Max Willutzki und Christian Ziewer wie auch für Philip Werner Sauber.
Sauber erwarb von der Abfindung in Höhe von 19.800 DM die erste tragbare, 20 Kilogramm schwere Videoausrüstung in West-Berlin,37 die in den folgenden Jahren immer wieder auch in dffb-Produktionen zum Einsatz kam.38 Die Gruppe Basis-Film legte die Abfindungen zusammen und schaffte eine Filmausrüstung mit Kamera, Tonbandgerät et cetera an. Wie zuvor die Gruppe 3 waren die Filmemacher nun in der Lage, unabhängig Filme herzustellen.39 Anschließend an die Diskussion über „Zielgruppenfilme“, die seit Ende der 1968 auch an der dffb geführt wurde, nahm die Gruppe im Märkischen Viertel Aktivitäten, Diskussionen und Aktionen auf Film auf.40
Harun Farocki arbeitete nach seiner Relegation mit der „Roten Zelle Technik TU Berlin“ an WANDERKINO FÜR INGENIEURSTUDENTEN und begann dann mit der Arbeit an NICHT LÖSCHBARES FEUER, der den Napalm-Einsatz der USA in Vietnam auf eindringliche Weise anprangerte.41 NICHT LÖSCHBARES FEUER ist der Film, mit dem Farocki einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde. Es folgten zwei agitatorische Kurzfilme, produziert von der Sozialistischen Filmemacher Cooperative West-Berlin (OHNE TITEL ODER: NIXON KOMMT NACH BERLIN und ANLEITUNG, POLIZISTEN DEN HELM ABZUREISSEN, beide von 1969) und schließlich zwei weitere Filme, die Harun Farocki und Hartmut Bitomsky gemeinsam realisierten: DIE TEILUNG DER TAGE und EINE SACHE, DIE SICH VERSTEHT (15x). Farocki dürfte damit der produktivste unter den relegierten Studenten gewesen sein.
Günter Peter Straschek realisierte 1970 den Kurzspielfilm ZUM BEGRIFF DES ‚KRITISCHEN KOMMUNISMUS‘ BEI ANTONIO LABRIOLA (1843–1904). Der Film wurde produziert von der Sozialistischen Filmcooperative (Berlin/West) und dem Institut für Filmgestaltung Ulm e.V. (Ulm) – vor und hinter der Kamera standen zahlreiche Studierende der dffb. Ab 1972 war Straschek Autor einer Reihe von Radiobeiträgen.42
Jahresende
Ende 1968 entstanden die Aufnahmen zur Irena Vkljans Abschlussfilm BERLIN (1969). Wie die Vorgängerfilme FAROQHI DREHT, WIDMUNG FÜR EIN HAUS und BERLIN UNVERKÄUFLICH ist BERLIN ein nachdenklicher Film, der von den beiden Polen der Auseinandersetzung - den agitatorisch zugespitzten Filmen der Relegierten und dem beobachtenden Dokumentieren Wildenhahns – gleich weit entfernt. Gegen Ende finden sich Aufnahmen von einer der zahllosen Demonstrationen des Jahres. Gefilmt aus einer durchaus wohlwollenden Perspektive, bleiben sie doch außen vor und tauchen nicht in die Menschenmenge ein. Ein ruhiger Film in einer schreienden Zeit.
Blickt man am Jahresende 1969 zurück auf die Entwicklung der dffb, muss die Bilanz positiv ausfallen: Drei Jahre lang hatten die Studierenden einer großen Bandbreite von Wirklichkeiten zur Sichtbarkeit verholfen, wie dies im deutschen Film bis dahin unbekannt war. Die Filme waren Ausdruck einer filmischen Grundlagenforschung, die den politischen Film in der Bundesrepublik auf Jahre hinaus prägen sollten. Möglich war dies, weil – wie die dffb-Studentin Cristina Perincioli rückblickend bemerkte – an der dffb nur wenig Zensur stattfand,43 als welchen die Studierenden die Vorfälle im Zusammenhang mit der Kopie von EIN WESTERN FÜR DEN SDS wahrgenommen hatten. Aber auch die Akademieleitung war in den folgenden Jahren klug genug, solchen Versuchungen weitgehend zu widerstehen. Zudem bewies die Akademieleitung viel Geduld, wenn man die immer wiederkehrenden Ärgernisse mit der Polizei bei Dreharbeiten bedenkt, bei denen immer technisches Material der Akademie betroffen war. Drei Jahre nach der Eröffnung hatte die dffb immerhin ihre ersten schweren Krisen überstanden und zu friedlicher Koexistenz zwischen Direktion, Dozenten und Studierenden gefunden. Gar nicht so wenig mit Blick auf die bewegten Zeiten.